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Beitrag vom 28.12.2022
Aldona Gustas. Pulsierendes Leben – Pulsierender Tod
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Am 8. Dezember 2022 ist die aus Litauen stammende Berliner Dichterin und Grafikern Aldona Gustas in Berlin-Kreuzberg gestorben. Die Gründerin der Berliner Malerpoeten prägte die West-Berliner Kunst- und Kulturszene in der Nachkriegszeit.
"Nicht sein / zu Wasser / zu Lande" lautet die letzte Strophe ihrer Totenklage – über 700 Gedicht-Strophen -, die sie ihrem geliebten Mann Georg Holmsten schrieb, in der letzten Phase seines elfjährigen Sterbens. Eine Lyrik-Sammlung, die sie 2012 in einem Buch unter dem Titel UNTOTER – Rede- und Suchgedichte mit seinen Illustrationen veröffentlichte. Jetzt, ein Jahrzehnt später, ist sie selbst aufgebrochen zum "Nicht sein", das nicht Nichts sein und nicht das Ende ist, für Aldona Gustas. So sah sie es im Leben und in ihrer Poesie: "Punkte hasse ich sowieso wie die Pest, meine Gedichte haben keinen Punkt, weil es kein Ende gibt. Es gibt nach dem Tod kein Ende. Es gibt kein Ende."
Einschnitte in ihrer Biografie hat Aldona Gustas in einem Gedicht spartanisch einmal so pointiert:
"ich war lange 1932 / ich war lange 1945 / ich war lange 1952 / ich war lange 1962 /ich war lange 1972 / in den Jahren dazwischen / lebte ich kurz"
1932 – Kindheit in Litauen – Seele und Natur
1932 wurde Aldona Gustase in Karceviškiai, einem Dorf im Kreis Silute, im Memelgebiet in Litauen geboren. Kindheitserinnerungen aus Litauen – schöne und traumatische -, prägen Aldonas ganzes Leben und ihr literarisches und künstlerisches Schaffen. Spielen und Umherstreifen durch die litauischen Wiesen und Wälder ihrer frühen Kindheit, vorzugsweisen mit Jungs und mit ihrem Vater, nährten einen besonderen Bund mit der Natur. Zeit ihres Lebens sammelte Aldona Federn, Steine, Blumen, Blätter, liebte Bäume und sprach auch manchmal mit ihnen. Ihre Bilder zeugen von einer animistischen Sicht auf die Welt, das Urige, und von den für sie fließenden Grenzen zwischen Mensch und Kreatur.
"als ich /mit Birken/und Bernsteintieren/befreundet war/mit Spatzen auf den Schultern/durch zugige Wälder lief/als ich/mit Birken/und Bernsteintieren/verwandt war/der Umwelt/als ein noch kleines Mädchen/erschien/begegnete ich in Silute/bereits täglich/etwas Ewigem" (In: Luftkäfige. Eine litauische Kindheit. Berlin: Edition Mariannenpresse 1980)
1939 gerät Aldonas Familie zwischen die Fronten des Eroberungs- und Vernichtungskriegs von Nazi-Deutschland und der stalinistischen Besatzungspolitik der Sowjetunion. Nach der Rückeroberung des Memellandes durch die Deutschen 1939 flieht die Familie nach Wilna (Vilnius). Hier erlebt die 8-jährige Aldona 1940 die Besatzung der Stadt durch sowjetische Truppen. Im Frühjahr 1941 kommt die Familie im Zuge der NS-Umsiedlung von Litauendeutschen nach Rostock. Im gleichen Jahr wird ihr Onkel Johann von den Nazis verhaftet und 1942 im KZ Groß-Rosen ermordet. Als Jugendliche erfährt Aldona Bomben-Krieg und Zerstörung in Rostock. Zum Kriegsende und mit Einmarsch der sowjetischen Truppen in Rostock im Mai 1945 wird die Familie getrennt. Der Vater geriet vermutlich in russische Gefangenschaft und wurde einige Jahre im sowjetischen Gulag in Sibirien interniert.
1945 – Krieg und Flucht – Traumata, die bleiben
1945 kommen Aldona Gustas, ihr einjähriger Bruder und die Mutter nach langer Flucht als Kriegsflüchtlinge nach Berlin. In Berlin und immer nur hier wollte sie fortan leben, auch wenn sie ihre litauischen Wurzeln nie vergaß.
"Aus litauischen Wäldern / kommend /ging Berlin/mir unter die Haut/als Stadt öffnete sie/mir die Häuserarme/und ich entschlüpfte/meiner Flüchtlingshaut" (Aldona Gustas. Berliner Tagebuch Gedichte)
Obwohl lange noch in Trümmern und im Kalten Krieg geteilt, ist die Nachkriegsinsel Berlin für Aldona Zuflucht, Heimat und grenzenlose Freiheit.
Dieses Gefühl verbindet sie mit anderen Kreativen der Kriegsgeneration, die sie später unter dem Dach der Berliner Malerpoeten zusammenbringt.
1952 – Georg Holmsten – Liebe für ein Leben und mehr
1952 lernt Aldona Gustas in Berlin den Journalisten und Schriftsteller Georg Holmsten kennen. Holmsten war am Attentat des militärischen Widerstands auf Hitler beteiligt. Am 20. Juli 1944 ist er im Bendlerblock, kann als einer der Wenigen der Hinrichtungswelle entrinnen. Er, der Literat aus Estland, ermutigt Aldona zum Schreiben. Sie heiratet ihn noch 1952. Beide sind entschieden, keine Kinder zu bekommen, sondern ihr Leben ganz dem Schreiben und ihrer leidenschaftlichen Liebe zu widmen. Das Schreiben wird ihr zur Zuflucht, als ihr Mann 1999 schwer erkrankt und sie über Jahre die einzige ist, der er sich mitteilt und aussetzt. Asyl im Gedicht (2001) und Untoter (2012) sprechen davon.
1962 – Ausbruch ins Gedicht - Asyl im Geschlecht1962 veröffentlichte Aldona Gustas ihren ersten Gedichtband Nachtstraßen in der Eremitenpresse ihres Mentors Victor Otto Stomps, mit Holzschnitten von Hans Sünderhauf.
Als Lyrikerin hat Aldona Gustas ihre Arbeiten in mehreren Dutzend Gedichtbänden in kleineren bibliophilen Verlagen veröffentlicht. Ihre Werke wurden vertont und in diverse Sprachen übersetzt. Die deutsche Nationalbibliothek listet 25 eigene Publikationen und 21 Buchbeteiligungen – eine atemlose Schöpfungskraft trieb diese zierliche Frau an.
Weibliche Identität, Erotik und Sinnlichkeit sind wichtige Themen des lyrischen und bildnerischen Werkes von Aldona Gustas, die sie in zahlreichen Publikationen bearbeitet. Paradoxe besiedeln viele ihrer Sprach-Bilder – androgyne Figuren, in der sich Körperrundungen in Fische oder Vögel transformieren. Entgrenzte weibliche Sexualität und subjektiver künstlerischer Ausdruck sind ihr Orte der Freiheit:
Asyl im Geschlecht (1990).
Um Frauen in der Kunst und Literatur zu stärken, trat sie der Gedok (Verband der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen) bei und leitete vier Jahre lang die Literaturabteilung.
1972 – Berliner Malerpoeten – Symbiosen1972 gründet Aldona Gustas mit den Freunden Günter Bruno Fuchs, Robert Wolfgang Schnell, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Kurt Mühlenhaupt und anderen schreibenden Malern und zeichnenden Autoren die vierzehnköpfige Gruppe
Berliner Malerpoeten. Mit einigen von ihnen ist sie seit den frühen 60er Jahren befreundet, lässt sich auch von ihnen zum Zeichnen ermutigen. Horst Strempel und Matthias Koeppel unterrichten sie in Grafik und Malerei. Ab 1970 ist sie als Bildende Künstlerin tätig, fertigt zunächst Aquarelle und einige Ölbilder, später vorwiegend Zeichnungen, die sie in ihren zahlreichen Publikationen und ab und zu auch in Ausstellungen veröffentlicht. Ihr Interesse, Literatur und Malerei zu verbinden, realisiert sie mit der Gründung der Berliner Malerpoeten.
Sie ist Kopf, Kuratorin und Managerin der Gruppe, die einzige Frau. Ihre Versuche, andere Künstlerinnen in die Gruppe zu bringen, scheitern am Widerstand der Männer. Nur an diesem Punkt kann sich die willensstarke Aldona Gustas nicht durchsetzen, beugt sich dem demokratischen Mehrheitsentscheid der Gruppe. Sie organisiert, unterstützt vom Goethe-Institut, Ausstellungen im Ausland: in Brüssel, Caracas, Medellin, Buenos Aires, Rom, Bordeaux u.a. Sie macht die Berliner Malerpoeten innerhalb und außerhalb Europas bekannt und gibt mehrere Anthologien für sie heraus. Dafür wird sie hochgeschätzt von ihren Freunden und Kollegen.
2014 – Aldona Gustas und Berliner Malerpoeten – RenaissanceAls John Colton und die Browse Gallery auf der Suche nach Spuren verschütteter Kreuzberger Kultur ab 2010 auch die Berliner Malerpoeten ins Blickfeld geraten, lässt sich Aldona Gustas nicht lange bitten, ihr Lebenswerk mit neuen Ausstellungen dem Vergessen zu entreißen. Sie ko-kuratiert noch einmal eine Ausstellung für die Berliner Malerpoeten. Pulsierendes Leben – Pulsierender Tod eröffnet 2014 unter großem öffentlichem Interesse und Medienaufmerksamkeit. Direkt im Anschluss folgt dort auch eine Solo-Ausstellung von Aldona Gustas mit zahlreichen unveröffentlichten Zeichnungen aus der Mundfrauen- Serie.
Mit diesen Ausstellungen erfahren das bildnerische Werk von Aldona Gustas und die Berliner Malerpoeten neue nationale und internationale Beachtung. Vor allem in Litauen blüht das Interesse an Aldona Gustas zeichnerischen Arbeiten auf. Unter anderem organisieren die Browse Gallery und das Goethe-Institut Litauen eine zweijährige Wanderausstellung
Aldona Gustas und die MUNDFRAUEN, die 2016/2017 durch in Litauen tourt.
2017 – Oxymora – Zeit der Schwarzen SchneeflockenBevor sich Aldona Gustas zur Ruhe setzt, vollbringt sie 2017 noch eine Herkulesaufgabe. Sie bringt ihr letztes Buch Zeit zeitigt heraus und stellt es im Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse vor. Eine große Ausstellung der Berliner Malerpoeten findet parallel in der Leipziger Baumwollspinnerei als Teil einer Doppelausstellung mit acht zeitgenössischen litauischen Textildesignerinnen und Aldona Gustas als Bindeglied statt:
Oxymora, kuratiert von John Colton (Browse Gallery) und Virginija VitkienÄ— (Direktorin des Festivals
Kaunas European Capital of Culture 2022.
Anlässlich der Eröffnung der litauischen Wanderausstellung in der Nationalbibliothek von Vilnius wird Aldona Gustas im April 2017 nach Litauen eingeladen. Dort macht sie sich auf die Suche nach Spuren ihrer Kindheit und nimmt bewusst Abschied, schon ahnend, dass ihr Erinnerungsvermögen schwächer wird.
2022 – Nicht seinZurück in Berlin, nimmt Aldona Gustas erschöpft einen Platz in einem Senior*innenheim in ihrem geliebten Kreuzberg ein. Sabine Drwenzi und John Colton von der Browse Gallery begleiten sie weiterhin bis zum Moment ihres Todes und sorgen weiterhin dafür, dass Aldona und die Berliner Malerpoeten nicht in Vergessenheit geraten. Noch in diesem Jahr gab es zur
Feier ihres 90. Geburtstags und des Jahrestages
50 Jahre Berliner Malerpoeten Ausstellungen in- und außerhalb Berlins.
Mit ihrem Tod am 8. Dezember 2022 ist die letzte der Berliner Malerpoeten gestorben. Sie wird uns sehr fehlen. Als Text für ihre Todesanzeige wählte sie ein kurzes Gedicht
ich bin ein blauer Apfel
der zu keinem Baum gehört
ich sterbe aus
A.G.
Für ihre kulturellen Beiträge wurde Aldona Gustas bisher mit der Rahel Varnhagen von Ense-Medaille (1997), dem Bundesverdienstkreuz (1999) und der Medaille des Verdienstordens der Republik Litauen (2006) ausgezeichnet.
Berlin könnte sie erinnern und im Stadtbild dauerhaft sichtbar machen, mit einer Straßen- oder Platzbenennung auf ihren Namen.
Gekürzte und leicht veränderte Version des
Blogartikels auf der Website der Browse Gallery© Browse Gallery 2022
Fotos von Aldona Gustas: John Colton